Zu den Gestaltungsprinzipien von Alfred Niedecken
Die Arbeiten Alfred Niedeckens sind von einer weichen Bewegung erfüllt. Ihre gestaltende Kraft ist die Farbe mit den Eigenschaften, die sie als Pigment entwickelt: im Fließen, Verlaufen, Einziehen in den Bildgrund und im Vermischen mit anderen Farben.
Um die gestalterische Kraft der Farbe nicht von Vornherein zu beeinflussen, breitet Alfred Niedecken seine Leinwände für den Entstehungsprozess waagerecht aus. In seinem weiteren Vorgehen lassen sich zwei Ansätze unterscheiden.
Einerseits lässt er eine Ölfarbe in stark verdünnter Form ohne Einwirkung von Pinseln oder ähnlichen Werkzeugen auf die unpräparierte Leinwand tropfen. Dies wiederholt er mit weiteren Farben, die sich mit der ersten Farben vermischen können. Alfred Niedecken greift in den Vorgang ein, indem er die Leinwand an den Seiten anhebt. Damit kann er das Rinnen, Verfließen und Mischen der Farben zwar beeinflussen, nicht aber vollständig kontrollieren. So hat der gelenkte Zufall einen großen Einfluss auf das Entstehen des Bildes. Wenn Alfred Niedecken die zweite Farbe auftropft, während die erste noch feucht ist, ergeben sich Verläufe und Mischungen. Naß in naß entfalten die Farben
eine schwebende, atmosphärische Wirkung mit zahllosen Übergängen in ihren Wertigkeiten. Tritt die zweite Farbe nach dem Trocknen der ersten hinzu, so bringen die Lasuren, Überschneidungen und Abdeckungen eine räumliche Wirkung hervor. Erst wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, trägt Alfred Niedecken mit dem Pinsel schwarze Linien auf, die den Verlauf der Farbfelder nachzeichnen, die entstandenen Formen unterstützen und die Komposition mit einem Gerüst festigen oder deutlicher machen.
Wenn Alfred Niedecken andererseits die Leinwand mit einem Kreidegrund präpariert, so entsteht ein saugender Malgrund, in den die Farbe sofort einzieht. Hier kann und will er den Verlauf der Farbe nur bedingt einsetzen; gestaltende Kraft des Bildes ist vielmehr der gestische Pinselschwung. Die Pinselzüge bleiben deutlich ablesbar, eine spätere Korrektur ist nicht möglich. Der Akt des Schaffens ist unmittelbar nachzuvollziehen, jede Pinselborste hinterlässt ihre Spur. Die rasche gestische Niederschrift erlebt der Betrachter als eine zeitliche Beschleunigung; der Farbverlauf ist dynamisch und schwunghaft.
In der abstrakt-gestischen Gestaltung versucht Alfred Niedecken die kontrollierende Kraft der Ratio weitgehend auszuschalten. In einer Art von meditativer Versenkung ist es die unbewusste Geste, die dem Fluss der Farbe folgt und ihn gleichzeitig lenkt. Es wird deutlich, dass Alfred Niedecken sich mit der Philosophie des fernöstlichen Tao, Zen und der Kalligraphie auseinandergesetzt hat, den Prinzipien, die auch einen starken Einfluss auf die Künstler des Informel besaßen. Die Parallelen im Schaffen von Alfred Niedecken zu den Werken des Informel sind nicht zufällig.
Die Taoistische Betrachtung der Welt fordert eine Handlungsweise ohne Hingabe an das Handeln selbst, eine Einsicht in die Gesetze der Natur, die stärker sind als das menschliche Handeln. Im Zen wird die Weisheitslehre des Tao durch den Erkenntnisweg der Meditation fortgesetzt und erweitert. „Nicht herbeiführen, was sein soll, sondern gelten lassen, was ist.“ - dieses bereits oben erwähnte Prinzip aus dem Zen-Buddhismus findet sich in den Werken von Alfred Niedecken wieder.
Die meditative Versenkung stellt das verbindende Element zur ostasiatischen Kalligraphie dar: In der japanischen und chinesischen Bilderschrift hat bereits das einzelne, mehrteilige Gebilde eine begriffliche Bedeutung und ist daher einer bildlichen Anordnung zugänglich. So entsteht das Schrift-Bild aus der individuell geschulten Pinselführung des Schreibers und gleichzeitig als Resultat der meditativen Versenkung während des Schreibprozesses. In der gestisch-spontanen Niederschrift chiffrenartiger Formen manifestiert sich der Bezug von Alfred Niedeckens Handschrift zu dieser Form der Kalligraphie.
Seine Inspiration zieht Alfred Niedecken dabei aus allem, was ihn umgibt, wobei Naturformen im Vordergrund stehen: seien es Wolken, Wasser, das Meer oder Bäume. Auch die verwaschenen und schrundigen Wände alter Häuser bieten eine Vielzahl von amorphen Formen an. Das Prinzip ist so neu nicht: Schon Leonardo da Vinci empfiehlt dem Maler, Steine, feuchte Mauern, Wolken und Schlamm assoziierend zu betrachten, um daraus neue Bildkompositionen zu gewinnen. Es braucht jedoch ein modernes Auge, um amorphe Strukturen in abstrakte Bilder umzusetzen. Die Vorliebe Alfred Niedeckens für Wolken, die sich auch in dem von ihm gewählten Gedicht am Anfang des Katalogs äußert, betont dazu das transitorische Element: Sowohl der Betrachter als auch der Gegenstand der Betrachtung sind der steten Veränderung unterworfen.
In seinen Bilder äußert sich dies transitorische Moment in einer Entgrenzung der Farben. Sie besitzen keine endgültigen Konturen, sondern eine offene, mehrdeutige Form. Die von Alfred Niedecken häufig verwendete Kombination von Blau und Grün legt zusammen mit dem fließenden Farbauftrag die Assoziation von Wasser, von Meer nahe. Zusammen mit der Primärfarbe Gelb, die in Mischung mit Blau Grün ergibt, bietet diese Farbschiene zahlreiche Möglichkeiten des fließenden Übergangs (siehe dazu Bilder wie Caras, Flut uns Cypressus). Das Blau ist auch die Farbe, die assoziativ Tiefe schafft und damit eine Räumlichkeit jenseits der Perspektive in das Bild bringt. Rot drängt durch seine Energie nach vorn, und Alfred Niedecken verwendet es sparsam, um nachträglich Akzente zu setzen. Gelb ist per se lichthaft, und seine schwebende Helligkeit scheint sich auf die angrenzenden Flächen zu übertragen. Erst seit kurzem steigert Alfred Niedecken diesen Effekt des Lichthaften im Bild noch durch die Verwendung von Blattgold. Symbolisch für die Sonne stehend, verkörpert das Gold den immateriellen Glanz des Lichts, indem es ihn reflektiert.
Konzentriert auf die eine Farbe Indigo lassen sich die Gestaltungsprinzipien Alfred Niedeckens in dem Bild Taom von 1995 erfahren. Das schmale Hochformat gibt dem Bild eine Dynamik, die sich der Schwerkraft entgegen stellt; ferner verweist es auf chinesische Rollbilder. Die Form entwickelt sich in der Senkrechten auf der neutralen Folie eines weißen Untergrunds. Eine annähernd kreisförmige Farbballung setzt den Schwerpunkt in das oberste Bildviertel und unterstützt so den Eindruck von Leichtigkeit, die die Schwerkraft überwindet. Einzelne Farbtropfen flankieren das Rund nach oben. Die Hauptbewegung jedoch geht nach unten, wo der Farbfluß nach einer Unterbrechung neu ansetzt, um einer langgezogenen Schweifform kurvig und sich verjüngend auszulaufen. Zwischen der Kreis- und der Schweifform befindet sich eine Zone, in der die Farbe in dem nassen Untergrund verlaufen ist. Dort bildet sich eine Verbindung von Farbschlieren aus, die die Zäsur überwindet, aber kenntlich lässt. Das Auge folgt der Bewegung von dem Wirbel der Kreisform über den ausfransenden Schweif, bis ein einzelner Tropfen sie an dessen Spitze zum Stehen bringt. Die Grenzen der Formen sind durch das Verlaufen der Farbe unscharf und fließend. Der Gesamteindruck ohne winklige Brechungen lässt an Organisches denken, die Form eines Spermiums oder einer Kaulquappe. Dieser Eindruck wird von der Zäsur zwischen Kreis und Schweif gebrochen. Die Form bleibt im mehrfachen Sinn in der Schwebe.
Bilden die meditative Versenkung und die spontane Niederschrift die Verbindungen im Schaffen Alfred Niedeckens zur Kalligraphie, so besitzt diese doch stets auch eine semantische Bedeutung. Die Werke Alfred Niedeckens sind keine Zeichen, sondern erzielen ihre emotionale Wertigkeit allein aus der Kraft von Form und Farbe. Damit hat er Teil an den Schaffensprinzipien des Informel, das sich zu einer spontanen Niederschrift emotionaler Situationen und dem Schöpfen aus dem Unbewussten bekennt. Die Form tritt gegenüber dem Prozess des Werdens in den Hintergrund. Das Informel hat seine Wurzeln in der écriture automatique des Surrealismus, die – wie die Versenkung der Zen-Kalligraphen – das Unbewusste für den Schaffensprozess frei machen wollte. Hier treffen sich die Bestrebungen, rational nicht kontrollierte Formen für emotionale Situationen zu finden, den Vorgaben der Farbe zu folgen und das Bild mehr geschehen zu lassen als lenkend zu gestalten. In der Betrachtung der Form, die für das Werden ebenso offen ist wie für das Auslösen, und in der Betrachtung der rinnenden Farbe schlägt sich für den Betrachter der Bogen von dem taoistischen „Handeln ohne Hingabe an das handeln“ zu der Erkenntnis Heraklits: „Alles fließt.“
Dr. Klemens Kroh