Ein Portrait von Michaela Lorenc-Suhrcke

Der 1956 geborene Alfred Niedecken hat nach seinem Studium der Malerei bei Jodef Jost und der Zeichenlehre bei Professor Hermann von Saalfeld an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz in verschiedenen Ateliers seine Ausbildung fortgeführt.

Anfang der 80er Jahre fand er schnell den Zugang zu den Ateliers von Bernd Baumbach (Mainz), Carol Rousin (Mainz), Heinrich Demel (Bad Homburg) sowie Frank Leissring (Bad Homburg/Perpignan) und setzte sich intensiv mit der künstlerischen Darstellung des Aktes, der Landschaft und der Architektur auseinander.

In seiner ersten Ausstellung im Garnier´s Keller in Friedrichsdorf (1985) mit dem Titel „Visionen“ setzte Alfred Niedecken real Erlebtes in Beziehung zu Zukunftsvisionen. Die Farbstiftzeichnungen und Aquarelle dieser Ausstellung zeigen Elemente und Fragmente aus der freien Natur, die aus dem natürlichen Sinnzusammenhang herausgetrennt werden. Losgelöst vom Zwang der totalen Natursicht werden die Motive in eine völlig neuartige Bildwirklichkeit hinein komponiert. Das neu entstandene Bild stellt eine Vereinigung von realen Formen und abstrakter Komposition dar, die gegenüber den individuellen Assoziationen des Betrachters offen ist. Die realen Formen werden durch gestische Farbspuren überlagert, gebrochen oder ergänzt. Alfred Niedecken, der

seine eigene Gefühlsverfassung während der Entstehungszeit des Werkes im Bild festhält und sich vom Malprozess treiben lässt, ist es bis heute ein großes Anliegen, dem Betrachter einen Gestaltungsfreiraum einzuräumen, um individuelle Assoziationen zu ermöglichen.

Die Verschmelzung von realen Gegenständen und Lebensformen mit der abstrakten Komposition ist ein erster Schritt zur vollkommenen Abstraktion. Bezeichnend für die Werke dieser Zeit ist das Experiment mit dem kompositorischen und farblichen Bildaufbau und die Suche nach dem eigenen künstlerischen Ausdruck.

Durch die Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen europäischen Kunst – hier sind vor allem Emil Schumacher und Antoni Tàpies zu nennen – und dem fernöstlichen Gedankengut hat Alfred Niedecken Anfang der 90er Jahre zu einer neuen bildnerischen Freiheit gefunden.

Insbesondere die intensive Beschäftigung mit der Kunst der Zen-Meister und der ihr zugrundeliegenden philosophischen Ausrichtung hat Niedecken in seiner künstlerischen Entwicklung geprägt und die Lebensphilosophie des Künstlers maßgeblich beeinflusst. Seine Orientierung an dem buddhistischen Gedankengut unterstreicht folgende Aussage des Künstlers: „Da wir ständig zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft pendeln, ist es von größter Wichtigkeit, im Hier und Jetzt zu leben. Denn je mehr der Mensch im Hier und Jetzt, d.h. in der Gegenwart lebt, desto deutlicher nimmt er wahr.“ Von diesem Gedankengut geleitet, entstehen seine Bilder aus dem Moment. Alles im Hier und Jetzt sich Befindliche, alle Gefühle, Gedanken und Assoziationen, alles, was mit den sinnlichen Organen wahrnehmbar ist, alle Eindrücke und Empfindungen, alles wird zum Bild. Für Niedecken ist der Dialog zwischen ihm selbst und der Leinwand das, was von größter Bedeutung ist und was im Bild festgehalten werden soll. Demnach ist der Malprozess ein Wechselspiel zwischen der bewussten Einflussnahme der eigenen Person auf das Gemalte und den aus dem Hier und Jetzt sich ergebenden Assoziationen und Gefühlsäußerungen. Die meditative Verarbeitung der aufgenommenen Eindrücke wird nach Aussage des Künstlers erst dann in Bilder transferiert, wenn die Zeit dafür reif ist. „Nicht herbeiführen, was sein soll, sondern gelten lassen, was ist.“

Malerei heißt für Niedecken, nicht mehr die Frage nach dem eigenen Stil zu beantworten, sondern sich auf die Analyse der eigenen Befindlichkeit zu konzentrieren. Diese artikuliert sich in seinen Bildern in gestisch-abstrakten Formgedanken. Durch traumhafte visionäre und meditative Gemütszustände entstehen kompositorische Neuordnungen, die in der Verschleierung und dem Zerfließen der Bewegungsabläufe zum Ausdruck kommen. Die Farben sind sich selbst überlassen und ohne darstellerische Aufgaben zur freien Entfaltung eingesetzt. Alfred Niedecken, der sich ganz dem Bewegungsrhythmus und den spannungsvollen farbigen Verläufen verschrieben zu haben scheint, hat sich Anfang der 90er Jahre endgültig zu einer Freisetzung der Farbe von gegenständlichen Bezügen durchgerungen.

Die durch das intensive Studium des Siebdrucks bei Werner Gassner in Darmstadt (1990) und des Tiefdrucks bei dem polnischen Professor Jacek Rybczynski in der Grafik-Werkstatt Klodzko (1992) gewonnenen Erfahrungen wandte Alfred Niedecken erfolgreich auf seine poetisch dahinfließende Malerei an. Christine Peters, Redakteurin der Frankfurter Rundschau, schrieb anlässlich einer Ausstellung in der Galerie am Schweizer Platz im Februar 1995: „Alfred Niedecken liebt die Transparenz und die Leichtigkeit. Wie edle Seide fließen auf seinen Ölbildern Farbflächen über- und ineinander … In Blau- und Grüntönen getauchte Bilder wie Strömung, Brandung oder Flut zeigen … Farbspiegelungen und (Farb)fluss ...“ Mit durchscheinenden Farben setzt Alfred Niedecken seine Visionen in harmonische Bildkompositionen um, wobei Goldeffekte als Ausdrucksmöglichkeit für Licht von besonderer Bedeutung sind. Die Bilder strahlen eine Ruhe aus, die den Ausgangspunkt zur meditativen Betrachtung bildet. Die zerfließenden Farbbahnen, Spritzer und Kleckse, die Übereinanderlagerungen von Farbflächen und Verläufen und die übergreifenden rhythmischen Bewegungen, denen eine psychisch motivierte Spontaneität zugrunde liegt, lassen den Betrachter nach dem Ausschau halten, was sich hinter dem transparenten Farbschleier verbirgt. „Malerei ist nicht nur das Visuelle, das unseren Augen entgegentritt, sie besteht auch aus dem, was dahinter und darin ist,“ hat Willem de Kooning einmal gesagt. Dies charakterisiert treffend auch die Arbeiten des Künstlers Alfred Niedecken.

Michaela Lorenc-Suhrcke

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